Ein Leben mit Klavierauszügen
Noch einmal zurück zu den Kuscheltieren. Auch dieser Vorgang dürfte nicht unbekannt sein: das Kuscheltier ist verloren gegangen. Es wird ein neues besorgt. Aber dieses wird entrüstet oder sogar gekränkt und unter Tränen zurückgewiesen: „Das ist nicht mein Kuscheltier!“ Ich gestehe: so ähnlich geht es mir auch, zwar ohne Tränen, aber ich leide ziemlich, wenn ich notgedrungen doch einen neuen Klavierauszug eines Oratoriums kaufen muss, weil das Risiko zu groß geworden ist, dass während des Konzertes mitten in einer meiner Arien lose Blätter herausfallen. Mal abgesehen davon, dass der Umschlag auch ziemlich schäbig aussieht. Ich musste das einige Male machen. Das betraf mit besonderer Dringlichkeit den ersten Klavierauszug von Johann Sebastian Bachs „Weihnachtsoratorium“, der „Johannes-Passion, zwei ganz und gar zerliebte Werke, die auch noch einen dritten Nachfolger brauchten, dann den „Elias“
von Felix Mendelssohn-Bartholdy, den ersten Band der Lieder von Johannes Brahms und den zweiten mit Liedern von Franz Schubert.
Aber: das sind dann nicht mehr „meine“ Noten! Das ist ein fremder Klavierauszug in meinen Händen, mit dem mich keine Geschichte mehr verbindet. Es ist, als sei die lebendige Verbindung zu allen Geschichten abgeschnitten, die sich mit diesem speziellen Musikstück verbinden: das erste Mal, als alles in mir auf’s Höchste gespannt darauf wartete, dass es aus mir klingen kann, so, als würde dieses Stück durch mein Singen überhaupt erst erschaffen, und dann immer wieder wenn sich mit jeder neuen Aufführung ein neuer Aspekt der Gestaltung dazu kam, wie eine neue Blüte an einer Pflanze.
In diesem Sinne empfinde ich das Singen als einen Schöpfungsakt. Die Noten für sich sind stumm. Aber für den, der sie versteht, bündeln sie Musik in sich, Klänge, die in ihrem Zusammenhang einen ganzen Klang- und Schwingungsraum entstehen lassen wie eine neue Wirklichkeit, und die, immer wenn sie neu erklingen, diese Wirklich kein ein wenig erweitern. Dann
fühlen sich sowohl die Ausübenden als auch die Zuhörenden in „eine bessre Welt entrückt“, wie es in dem Lied von Schubert, „An die Musik“, heißt. Es ist ein Schöpfungsraum, der da entsteht, wenn gesungen und überhaupt musiziert wird, der dem Paradies nicht unähnlich ist. Denn es hat dort alles seinen Platz und seine Bestimmung. Der ganze Verlauf steht in einem Sinnzusammenhang, den der Komponist geschaffen hat und in den ich mich als Sängerin einfüge.
Das ist ein solch ungeheuerlicher Vorgang, dass mich eine Scheu erfasst, wenn ich mir klar mache, dass ich mit dazu beitrage, dass er überhaupt entsteht, und dass die Aufführenden wie die Zuhörer diesen Raum miteinander teilen. All diese Erfahrungen kommen mir aus meinen alten Noten entgegen. Je älter sie sind und je öfter ch sie in den Händen gehalten habe, um so mehr klingt etwas wie ein Klangraumzuhause mit.
Wie kann ich da meine alten Klavierauszüge reparieren, also neu einbinden lassen? Ich habe sie auch nicht neu einbinden lassen wollen. Auch Kuscheltiere werden so lang als möglich in unrepariertem Zustand behalten. Es soll niemand anderer sie in die Hände bekommen und irgendetwas mit ihnen machen. Weder das reparierte Kuscheltier noch die neu eingebundenen Noten wären dann das, was sie mal waren.
Notenbände und Kuscheltiere müssen geradezu auseinanderfallen. Denn, wenn es soweit ist, ist das das letzte, wirklich untrügliche Zeichen, dass ein neuer Lebensabschnitt begonnen hat: das Kind ist erwachsen geworden und erlebt sich in neuen Lebenszusammenhängen, eigenständig, mit der inneren Stabilität, die es dazu braucht.
Auch ich als Sängerin bin erwachsen geworden mit meinen Noten und bereit, Altes gehen und Neues entstehen zu lassen. Denn ich habe nun die Musik vieler Lieder, vieler Arien in mir, wo sie sozusagen vergären, reifen, um dann, wenn ich sie wieder singe, wie neu zu erklingen. Anders im Ausdruck, vertiefter. Sie lassen sich i.d.R. auch leichter singen. Was einmal ein Problem war, hat
sich mit der zunehmenden Erfahrung erledigt. Und ich meine nicht nur die Erfahrung, die ich durch größere technische Fertigkeit erlangt habe. Auch ich habe mich verändert und damit auch mein Körper, meine Muskulatur, mein Atem… alles, was die Stimme zum Klingen bringt. Ich bin mit mir selbst weitergekommen in meinem inneren Wachstum, und dieser veränderte
Gesamtzustand wirkt sich dann auf das Lied aus. Jetzt passen auch die neuen Noten: dadurch, dass sie noch gänzlich unbearbeitet sind, ermöglichen sie in gewisser Weise parallel zu der inneren Entwicklung den neuen, erweiterten Blick auf die Musik. Sie werden zu den neuen Lebensbegleitern.
Viele der Lieder oder Arien, die in den alten Noten stecken, haben etwas Wichtiges gemeinsam, das über den Wechsel zu neuen Klavierauszügen hinausreicht. Sie sind zur Lebensmusik geworden, Lebenslieder, die in vielen Zeiten geholfen haben zu verstehen, worum es gerade geht. Sie haben Schönes vertieft und Schweres erträglich gemacht. Sie haben den Himmel noch weiter
geöffnet und über Abgründe eine sichere Brücke gebaut. Sie sind mir bis heute unentbehrlich, auch wenn ich vieles davon schon lange nicht mehr gesungen habe und manches wohl auch nie mehr selbst singen werde. Aber die Musik klingt weiter in mir. Lieder, die einem am Herzen liegen, gleich welchen Genres, können die Kraft stärken, an den Erfahrungen des Leben zu wachsen und überhaupt dem Leben selbst gewachsen zu sein. Die ganze Geschichte des Weges bis hierhin steckt in den alten, zerliebten Noten. Schaut euch ruhig mal die alten Noten wieder an. Singt die alten Lieder auf neue Weise oder hört sie an um zu erleben, ob und wie sich ihre Kraft und Bedeutung bewahrt oder verändert haben. Ich kann nur dazu ermutigen, sich diese Lieder – dasselbe gilt natürlich auch für Instrumentalwerke – immer wieder bewußt zu machen und sich durch sie stärken zu lassen, aufzuatmen und, ausgerüstet mit neuen Noten, mit neuem Blick auf das alt Vertraute weiterzugehen.