Warum es mehr als schön ist, immer wieder dasselbe zu singen
Neulich wurde in der Süddeutschen Zeitung auf einen Artikel im Freitagsmagazin hingewiesen,
der sich mit der Bedeutung von Kuscheltieren beschäftigt.
Mich hat folgende Formulierung fasziniert: diese Stofftiere werden „zerliebt“. Und ich glaube, es ist absolut klar, was damit gemeint ist.
Kuscheltier… wer eines hat, fühlt sich im Leben beschützt und sicher. Vor allem ist man nicht allein mit Sorgen, Nöten und auch Freuden, sondern kann sie teilen und wird verstanden. Und die Liebe der Kuscheltiere ist bedingungslos und unverbrüchlich. Sie helfen, zu wachsen, vielleicht sogar, sich das Erwachsenwerden zuzutrauen, und sei es zunächst einmal als Vorstellung. Denn man ist ja nicht allein. Und sie werden bedingungslos zurückgeliebt, ohne dass die Liebe zurückoder abgewiesen würde. Das Aussehen spielt absolut keine Rolle. Die Schönheit einer zerdrückten und ausgefransten Gestalt, die mal ein Hase, ein Hund oder ein Phantasietier war, verdankt sich all den Erfahrungen und Geschichten, die in es hinein erlitten und gefreut wurden. Eigentlich wird das ja bei Haustieren ähnlich erlebt, nur kann man mit denen nicht so schonungslos umgehen wie mit Kuscheltieren. Oder wie mit Liedern. Sie kann man singen und singen, und sie kommen einem, wenn man sie sich erwählt hat, nur immer näher, gehen nie kaputt.
Für mich haben manche der klassischen Lieder diese Qualität, Kuscheltierqualität. Aber natürlich gilt das im Prinzip auch für Lieder aus jedem Genre. Als ich sie entdeckte, bekamen sie sofort eine existentielle Bedeutung. Vor allem zu Beginn meines Gesangsstudiums hat sich das ereignet, und sie gingen unterstützend mit einer zentralen Lebenseinstellung in Resonanz, die dabei war, sich aus bestimmten Erfahrungen heraus zu entwickeln, nämlich Mut zum Leben zu bewahren, egal was passiert.
Langweilig sind klassische Lieder übrigens nur, wenn sie einem nichts sagen. Wenn sie einem egal sind. Und sie sagen einem nichts, wenn die innere Verbindung fehlt. Es geht dabei gar nicht mal zentral um die Frage, ob ein Lied gut oder schlecht komponiert ist, obwohl das durchaus eine Rolle spielen kann. Meist nämlich sind einem Lieder dann egal, wenn durch die Melodie oder den Text oder beides kein Gefühl ausgelöst wird. Und das ist völlig in Ordnung. Es wird ja auch nicht jedes Stofftier automatisch zum Kuscheltier. Und so wird auch nicht jedes Lied zum Lieblings oder mehr noch, zum Lebenslied, zu dem Lied, das einem das Gefühl gibt, in seinen Worten und seinem Klang aufgehoben zu sein und in dem man sich mit den eigenen Gefühlen wiederfindet; das einem Halt gibt, wenn der Boden unter den Füßen wegrutscht oder sogar auch dann stützt, wenn die Frage auftaucht, wozu man im Leben da ist. Lebenslieder sind Lieder, die ein zentrales Gefühl dafür vermitteln, dass das Leben, mein Leben einen Sinn hat. 1 Das allererste Lied, das mich so tief berührte, war von Franz Schubert. „Auf dem See“. Es kamen dann noch ein paar andere dazu, die fast vergleichbar wichtig wurden. Aber bei dem ersten Lied, das einen erwischt, ist es wie bei einem Kuscheltier: es bleibt meist für’s Leben dieses eine. Schon beim Lernen und dann erst recht beim Singen war es, als bewegte ich mich mitten in der Natur, die da beschrieben wird und ließ mich aufatmen, voller Erleichterung: ich sitze im Ruderboot und rudere über das Wasser, das sich leicht bewegt. Die Wellen lassen das Boot schaukeln, drum herum sind Berge, die Luft ist frisch und klar, die Sonne scheint und lässt das Wasser wie mit Diamanten übersät funkeln. So unfassbar schön, dass es das Herz vor Dankbarkeit, Lebensfreude und Lebenskraft fast zu sprengen scheint.
Der mittlere Abschnitt jedoch macht dieses Lied zum eigentlichen „Knaller“: Auf einmal bricht das überwältigende Glücksgefühl ein. Urplötzlich stürzt die Erinnerung an etwas herein, was einmal die Erfüllung aller Wünsche gewesen zu sein schien. Das muss nicht unbedingt eine unerfüllte oder verlorene Liebe sein. Es können auch Pläne sein, die gescheitert sind oder Vorstellungen, die sich nicht erfüllt haben. Es kann das ganze bisherige Leben sein, das von einem bestimmten Zeitpunkt an so anders verlaufen ist, als man es sich vorgestellt und gewünscht hat. Jedenfalls legt sich über die strahlende Natur ein dunkler Schleier. Jedoch: das, was sich in der Natur oder vielleicht auch darüber hinaus schon als stärkend erwiesen hat, springt als die eigene innere Stimme gerade noch rechtzeitig dazwischen, bevor der alte Leidenssumpf einen wieder zu verschlingen droht. Sie macht unmißverständlich deutlich, dass es sich bei den scheinbar goldenen bloß um vergoldete Träume handelt! Träume dieser Art haben es an sich, dass sie Leben zerstören anstatt Leben zu fördern, denn sie münden in keine realen Lebensvollzüge! Jedenfalls jetzt nicht mehr, auch wenn es mal anders aussah. „Herz, mein Herz, was sinkst du nieder? Goldne Träume, kommt ihr wieder?“ fragt der Dichter. Und jetzt der entscheidende Satz: „Weg, du Traum, so gold du bist. HIER auch Lieb und Leben ist.“ Und der Komponist wiederholt diesen Satz: „Hier auch LIEB und LEBEN ist!“
Welch eine grandiose Erinnerung daran, dass das Leben in allen Belangen sich immer nur in der Gegenwart erfüllt! was gestern noch war, ist vorbei.Was morgen kommt, weiß man noch nicht. Um den Moment jetzt geht es. Die Natur, wie sie im Lied von Franz Schubert so lebendig vor Augen tritt und das Herz für das Leben öffnet, legt Zeugnis davon ab: „Auf der Welle blinken tausend schwebende Sterne. Weiche Nebel trinken rings die türmende Ferne. Morgenwind umflügelt die beschattete Bucht, und im See bespiegelt sich die reifende Frucht.“ Auch dieser Abschnitt wird noch einmal wiederholt, harmonisch leicht angehoben. Er klingt also ein klein wenig höher, als solle die Intensität des Erlebens verstärkt, die Augen unbedingt wieder geöffnet werden – eine Stelle, die übrigens beim Singen besondere Aufmerksamkeit verlangt. Diese kleine Lagenverschiebung ist immer wieder neu eine Herausforderung. Aber auch das ist von der Aussage her passend: Es ist nämlich gar nicht selbstverständlich, dass dieses frische und stärkende Lebensgefühl auch selbstverständlich angenommen wird … die Sehnsucht nach dem Vergeblichen oder Unerfüllbaren schmeckt so schmerzlich-süß, kann einen immer wieder neu 2 anziehen. Es muss noch einmal mit Nachdruck „Ja“ gesagt werden zum dem Schönen, was einen jetzt und hier umgibt: funkelndes Wasser… frische Luft … Berge im Hintergrund… Licht. Dann kann es im Hören oder Singen geschehen, dass ‘Lieb und Leben’ in Bereichen wieder erkennbar werden, die von den vergoldeten Träumen ausgeblendet wurden, von deren Rändern es doch nur wie schwarzer Rauch herabwabert, der alles verdunkelt. Im Singen des Liedes kann die beschriebene Natur im übertragenen Sinn zu einer JETZT erlebbaren Wirklichkeit werden, die über über das Lied hinaus reicht. Nicht nur, dass die Kraft wieder wächst, den Alltag, das eigene Leben erneut und mit Mut anzugehen. Es ist sogar seine Schönheit wiederzukennen … Hier und Jetzt!
Hier und Jetzt hält das Leben Gutes für dich bereit! Auch wenn es allgemein vielleicht gerade nicht so gut aussieht. Das ist die Grundhaltung, zu der mich dieses Lied „Auf dem See“ von Franz Schubert immer wieder umgedreht hat, wenn ich es gesungen habe – und ich habe es vor allem in den ersten Jahren, nachdem ich es kennengelernt hatte, sehr oft gesungen, nicht nur bei Auftritten, sondern auch für mich allein. Weinend, trotzig, wie nach einem Rettungsring greifend, dann auch voller Dankbarkeit, glücklich, wenn das Leben mich wiederhatte. So lange, bis es dann von allein in mir zu klingen begann. Zerliebt vom vielen Singen teilt es nun seine Lebensmedizin aus, wenn sie mal wieder nötig ist.
Es liegt in der Natur von Lebensliedern wie von Kuscheltieren, dass sie unentbehrlich sind, überallhin mitgenommen und oft und oft gesungen werden. Außer im beruflichen Kontext, der natürlich unterschiedliche Programme verlangt, gibt es hier kein: „Ach, ich muss doch jetzt mal etwas anderes singen.“ Nein, im Gegenteil: sing dieses eine Lied, so oft du es brauchst. Sing es, so oft du merkst, dass du seine Nahrung brauchst, seinen Klang, seine Worte. Sie sind Medizin zum Leben! Die einmal erfahrene Wirkung bleibt nie aus: ein Aufatmen, innere Sicherheit, Zuversicht und Lebensfreude stellen sich zuverlässig ein. Wie bei einem Kuscheltier.
Und hier geht’s zum Lied: 3