Vor kurzem hörte ich im Radio in Bayern Klassik ein wunderbares Interview mit der Mezzosopranistin Waltraud Maier anlässlich ihres 65sten Geburtstages. Ich schätze diese Sängerin sehr und hörte hoch erfreut und interessiert zu.
Irgendwann kam dann die unvermeidliche Frage, wann sie denn gemerkt habe, dass sie auf die Bühne wolle. Ihre Antwort war bemerkenswert. Ich gebe sie sinngemäß und etwas verkürzt wieder. Sie sagte: „Ich habe eigentlich schon immer gesungen, in der Familie und in Chören. Und da sagte dann einmal ein Chorleiter zu mir – er war auch der Leiter des Würzburger Opernchores – ich könne doch eigentlich mal „singen lernen.“ (So findet sich diese Bemerkung nur im gesprochenen Interview. Im Skript ist diese Bemerkung herausgenommen.)
Ich stutzte, und dann lachte ich vor mich hin! Welch eine wunderbare Aussage war das denn: Sie hat schon immer gesungen, und dann sagt jemand, sie könne doch eigentlich mal singen lernen!
Aber wieso soll jemand, der schon immer und auch noch gut singt, dann auch noch singen lernen? Er kann es doch schon! Oder kann er es doch nicht?
Diese seltsame Mehrdeutigkeit zum Thema Singenkönnen trifft voll auf die Frage, die mich schon seit Jahren bewegt, eigentlich schon seit der Zeit, als ich selbst das Singen „lernte“. Nur habe ich damals gar nicht gemerkt, dass ich da „lerne“ zu singen! Ich hatte vielmehr das Gefühl, dass ich das eigentlich kann und auch schon immer konnte. Für mich ging es eher darum, auch das singen zu können, was mir bis dahin nur vom Hören vertraut war: Arien aus den gängigen Oratorien wie Weihnachtsoratorium (Bach), Messias (Händel), Elias (Mendelssohn) oder sogenannte „Kunstlieder“ von Franz Schubert oder Johannes Brahms und natürlich die ein oder andere Opernarie. Das wollte ich unbedingt.
Nach ein paar Hilfestellungen konnte ich es tatsächlich. Es war viel leichter, als ich dachte! Nun wollte ich erst recht alles lernen, was mir weiterhelfen würde, allfällige Hürden hier und da zu bewältigen. Was mir überhaupt nicht in den Sinn kam, war, dass ich lernen müsse, zu singen! Das konnte ich ja schon lange und wusste es auch: Darum wollte ich nichts anderes mehr, als das Singen zu meinem Beruf machen.
Wann der Bruch kam?
Ich weiß es nicht mehr. Jedenfalls nicht mit einem Mal.
Irgendwann muss es gewesen sein, als ich schon an der Hochschule in Frankfurt/Main studierte und ich mit mir selbst an meine Grenzen kam. Wenn es darum ging, zu differenzieren, dynamisch und farbig zu gestalten, war ich oft überfordert, und was die Tragfähigkeit und die Brillanz meiner Stimme anging, stand ich etwas weiter hinten in der Reihe der angehenden Profis.
Vielleicht habe ich vor allem in diesem Zusammenhang „meine Unschuld verloren“. Meine Stimme war von Natur aus durchaus kräftig und schön, aber ihr fehlte so ein spezieller Glanz, ein Brillieren … schlicht gesagt: es fehlten Obertöne, also all das, was auch noch zum Klangspektrum gehört.
Mit anderen Worten: ich musste und wollte nun wirklich das Singen lernen. Und ich wollte unbedingt lernen, was ich „machen“ muss, damit die Stimme glänzt und leuchtet und auch in der Lautstärke mit einem Klavier, vor allem aber mit einem Orchester gut mithalten kann.
Ich wollte meinen Beruf erfolgreich ausüben.
Und dazu gehört ein geschliffenes Handwerk.
Ab jetzt wurde es anstrengend. Es war ein harter Weg. Ich habe allerdings immer viel entdeckt und gelernt und wurde wieder und wieder überreich belohnt. Das ursprüngliche Singen, das ich schon immer konnte, das verbindet sich natürlich bis heute mit all der Kunstfertigkeit, die ich mir erworben habe. Im besten Fall. Denn es passiert mir durchaus hin und wieder, dass ich mich darauf besinnen muss: „Hey, du kannst singen! Verrenn dich nicht in irgendetwas Technisches! Sing!“ Und erstaunlicherweise organisiert sich der ganze Körper dann in passender Weise um die Kehle herum, unterstützt mich und alles wird eindeutig leichter.
Was heißt das aber für das „normale“ Singen mit Laien, die zu mir kommen und Singen lernen wollen? Oder für die, die ihre Begabung irgendwie haben mitlaufen lassen und immer wieder danach suchen, wie ihnen das Singen besser gelingen kann? Oder auch für Profis, die neue Impulse suchen?
Wie kann ich für sie die Brücke schlagen zwischen „Ich kann singen!“ und „Ich lerne singen!“, und zwar so, dass im Mittelpunkt steht: ich weiß, dass ich singen kann, und was ich lerne, hilft mir nur dabei, Hürden zu überwinden, bei denen sich mir sonst die Kehle quer stellt.
Wie aber kommt es, dass so mancher denkt: nur wenn ich eine Technik habe, dann kann ich richtig singen?
Ich habe den Verdacht, dass sich so manche der an sich begeisterten Chor- und Haussänger und -sängerinnen und auch manche, die „gelernt“ haben, ein wenig verführen lassen. Lassen sich von dem Bild des Sängers oder der Sängerin verführen, wie es durch TV-Mitschnitte und Nahaufnahmen entsteht und bewundert wird, durch selbst erlebte Bühnenauftritte oder mit etwas Glück durch Begegnungen am Bühnenausgang des Theaters, durch Fotos auf den Covern der CDs und DVDs.
Sie sind angerührt von dem intensiven Klang und Ausdruck, den starken Gefühlen, die da auf der Bühne gelebt werden, dem eindrucksvollen Aussehen und Auftreten und nicht zuletzt von der kraftvollen und sehr oft wirklich schönen Stimme, die da erschallt.
Da ist ja auch etwas dran.
Ich kann nur vermuten, was sich dadurch vermittelt: persönliche Stärke, Macht, Kraft? Selbstbestimmtes Dasein? die Fähigkeit, Gefühle wahrzunehmen und auszudrücken? Starkes Selbstbewusstsein durch den meist aufrechten, kraftvollen Gang eines Profis und die häufig sehr starke Ausstrahlung? Dass der Klang einer großen und vor allem geschulten Stimme Menschen bezaubert, verzaubert, verwandelt und man das selbst auch gern möchte? Dass nur ein solcher Klang die Tür aufstößt zu einem erfüllten Dasein, das die Leiden und manchmal auch Qualen des Alltags locker und vor allem dauerhaft überwindet? Orpheus hat das ja schon mal geschafft, die Pforten des Totenreiches mit seinem Gesang zu öffnen und mit ihrem Klang dorthin vorzudringen, wo es eigentlich kein Leben mehr gibt.
Aber ist es wirklich die Gesangstechnik, durch die sich lernen ließe, sich selbst zu fühlen und auszudrücken, selbstbewusst zu sein; sich aufzurichten und sich zu behaupten; andere oder sich selbst wiederzubeleben.
„Jemand“ zu sein.
Ich denke, nein! Das ist es nicht!
Denn genau dies alles, was so mancher an einem Sänger, einer Sängerin wahrzunehmen meint, kann jeder erleben, der das Singen einmal für sich entdeckt hat. Er oder sie erlebt genau dasselbe wie ein vermeintlich „richtiger“ Sänger oder eine „richtige“ Sängerin! Und zwar immer dann, wenn er seinem eigenen Singen traut, ganz unmittelbar, allein oder meist noch intensiver, zusammen mit anderen.
Letztendlich ist es immer diese ursprüngliche Qualität des Singens und Tönens, die einen selbst verändert und Zuhörer und Zuschauer erreicht, von wem das Singen auch dargeboten wird. Erst das berührt, was über alles Handwerkliche hinauswächst.
Und sobald einem klar ist, dass man auf seine Weise längst singen kann, dass man schon längst „jemand“ ist, dann ist es um einiges leichter, Hilfestellungen anzunehmen und werden diese auch erst wirklich fruchtbar. Denn manchmal braucht es tatsächlich eine Art Türöffner. Das einfache, normale Singen ist längst nicht mehr selbstverständlich. Meist hat es etwas mit Atem und Haltung zu tun, mit Ermutigtwerden, sich trauen und einfach ausprobieren: dann wird es möglich, auch das zu singen, was bis dahin noch schwer war. Oder es lebt eine Fähigkeit auf, die entweder noch nie gefördert wurde oder lange brach lag. Oft entwickelt sich dabei, Gefühle auszudrücken, sie überhaupt erst mal zu entdecken, sich aufzurichten, an sich zu glauben.
Frau Meier hat übrigens für’s erste wirklich nicht viel zu lernen brauchen. Nach ungefähr einem Jahr des Unterrichts wurde an der Würzburger Oper die Stelle für einen Mezzosopran frei. Sie sang vor und wurde vom Fleck weg engagiert, ohne je das Singen an einer Musikhochschule „gelernt“ zu haben. Nach ihrer eigenen Aussage hat sie alles weitere dann von ihren Kolleginnen und Kollegen, den Regisseuren und Dirigenten gelernt. Sozusagen im wirklichen Leben.
So geht’s auch!