Eine der schönsten Überraschungen beim Unterrichten ist, wenn jemand, der überzeugt ist, dass er gar nicht singen kann, das Singen aber trotzdem so schön findet, dann entdeckt, dass er es doch kann! Dass er es lernen kann!
Erst neulich wurde ich wieder mit dieser Erfahrung beschenkt. Es ist dann fast wie ein Wunder. Ich stelle mir vor, wie im Gehirn Regionen auf einmal wieder lebendig werden und sich zusammenschalten, die jahrzehntelang brach lagen. Es ist wie das allmähliche Aufbrechen einer Blüte, wenn von Stunde zu Stunde etwas mehr an Klang wiederentdeckt wird.
Sie kam und sang voller Inbrunst, einfach, weil es ein inneres Bedürfnis war zu singen. Egal wie. Und sie wußte, dass es da noch etwas zu entdecken gab mit dem Singen: den Klang, die Töne, die Melodie…
Also haben wir uns auf Entdeckungsreise begeben. Das waren die ersten Überraschungen: der Atem strömt! Der Klang vibriert im Brustkorb! Allein das war wunderbar.
Und für mich war sehr eindrücklich zu beobachten, wie dadurch der gesamte Körper anfing, sich zu entspannen, sich zu ordnen, sich in neuer Weise aufzurichten, so dass dieser Genuss, die Vibration zu spüren, voll ausgeschöpft werden konnte.
In Verbindung damit entstand ein Atem, der ganz selbstverständlich fließt, die Stimmbänder in Schwung bringt und damit neue Klänge ermöglichte, kleine Tonfolgen und das „Dranhängen“ an meine Stimme, wenn wir gemeinsam ein Lied sangen. Die Töne strömten ganz von allein, ohne dem Hals wehzutun: es klang! Und zwar nicht mehr beliebig kreuz und quer, sondern schon ziemlich stimmig und schön.
Und dann geschah es: dass der Körper sich aufrichtet, dass der Atem fließt, war inzwischen ganz leicht immer wieder herzustellen. Aber von jetzt auf gleich stimmten auch längere Tonfolgen durch alle Tonarten hindurch! Ganz von allein! Ohne dass meine Schülerin gewußt hätte, wie sie das „gemacht“ hat. Und auch ohne Ton für Ton vom Klavier abzunehmen und einzuüben, bis sie ihn „trifft“. Sondern die Intervalle waren von ganz allein stimmig! Die ihnen innewohnende Harmonie entfaltete sich aus sich selbst heraus!
Sie lauschte dem, was ich vorsang, und sie hörte, was am Klavier erklang, und sie sang es einfach nach. Ohne nachzudenken. Und es stimmte! Und sie hörte, dass es stimmte!
Voller Stolz erzählte sie mir dann, dass sie im Auto übt, indem sie einfach alle Melodien mitsingt. Offenbar hat sich das gelohnt, und im Kopf hat sich irgendetwas getan, hat sich ein inneres Hören wieder geöffnet, so dass Tonfolgen auf einmal harmonisch zusammen stimmen.
Es sind im Moment einfache Melodien, die wie von allein gelingen.
Aber das ist genug und erfüllend. Und wird sich weiter entwickeln.
Ähnelt das nicht dem Ablauf, wie z.B. Kinder singen lernen, im Idealfall mit Wonne und ohne Scham: erst wird mit jedem Geschrei die eigene Stimme überhaupt mal wahrgenommen. Dann kommt ein Gebrabbel, das mal höher, mal tiefer ist und Laute aller Art. Manchmal ist es auch ganz deutlich, wie das Kind mit seiner Stimme Klänge ausprobiert und sich zuhört. Dann lauscht es der Stimme der Person, die ihm vorsingt und irgendwann fängt es selbst an, Melodien nachzusingen oder zu erfinden. Erst mit einfachen Tonfolgen und Tonschritten, und auf einmal sind die Melodien ganz selbstverständlich da.
Und, so lehrt mich die Erfahrung in meinem Unterricht immer wieder, auch Erwachsene sind dazu in der Lage! Auch sie können ihre Stimme mit sich selbst wieder in Verbindung bringen. Entscheidend scheint für mich zu sein, dass der Mensch, der wieder singen will, es schafft, sich von der Scham löst, der er als Kind ausgesetzt war. Dass er sich selbst zutraut, dieses Singdesaster zu entwirren und zu entdecken, dass es es doch kann, nämlich singen! In kleinen stetigen Schritten, und jeder Schritt hält eine Klangüberraschung bereit.
Ich frage mich jedoch auch etwas anderes: gibt es wirklich ein „richtig“ und „falsch“?
Ja, natürlich, wenn ich in einem Chor singe oder zu einem Instrument oder sonst wie mich an vorgegebene Tonfolgen halten will, ist es eine Voraussetzung und auch volle Absicht, „richtig“ zu singen.
Aber – was fasziniert denn eigentlich so am Singen? Am Tönen? Ist es nicht das Hören und mindestens so sehr auch das Spüren der eigenen Stimme? Weil sie dich deiner selbst vergewissert! Dir Sicherheit gibt, wenn du nur schwer zur Ruhe kommst oder Angst hast!
Was weiß denn ich, aus welchem Grund ein sogenanntes musikalisches Hören nur schwach oder gar nicht ausgebildet ist. Und wer weiß, was geschieht, wenn über das Atmen, Tönen und Spüren das Vertrauen in dich selbst wieder wächst. Ob dann nicht auf einmal auch eine Melodie entsteht, die deiner Stimme entspringt als deine Melodie, und die nach außen trägt, dass du deiner selbst wieder sicher bist.
Sollte mir wieder jemand begegnen und klagen: „Ohhhh, ich kann überhaupt nicht singen! Das ist nur furchtbar; seit meiner Kindheit!“ dann stelle ich mich jetzt erst recht ganz freundlich vor ihn hin und sage: „Wenn du daran etwas ändern willst, lass es uns doch versuchen!“