Es tut weh.
Seltsamerweise reagiert meine Haut mit Schmerz. Als wenn an einer Wunde, die gerade beginnt zu verheilen, erneut das Messer angesetzt wird, weil nachoperiert werden muss. Ich bekomme wahrhaftig Angst! Ganz diffus strömt es wie spitze Schauer über die Haut und in mich hinein und läßt mich für einen Moment tatsächlich erstarren: „Nein, nicht noch einmal!“ weht es mir durch den Kopf.
Was war denn das gerade?
Ach ja: „Hoffentlich müssen wir nicht wieder online arbeiten!“ hatte die Studentin, die gerade zum Unterricht hereinstürmte, ausgerufen!
Ich hab mich zusammengerissen und sie erst einmal beruhigt im Sinne von: „Jetzt warten wir erst einmal ab und dann sehen wir weiter“ und bin zum Unterricht übergegangen.
Was war denn eigentlich so schlimm?
Die Onlinezeit im Frühjahr hat mich doch richtig viel entdecken lassen, und ich war völlig überrascht, wie gut es sich über den Bildschirm unterrichten ließ! Auch wenn das Vorgehen und die Massnahmen, die ergriffen werden, durchaus diskussionswürdig sind und immer neu hinterfragt werden müssen – es geht bei den aktuellen Beschränkungen doch wieder darum, Gesundheit zu schützen, also darum, Leben zu bewahren und Mittel und Wege dafür zu finden. Was erschreckt mich daran eigentlich so tief? Es ist eine absehbare Zeit, auch wenn sie noch ein wenig dauert und zunehmend eine Herausforderung wird.
War ich beim ersten Mal nicht überrascht und sehr erfreut, endlich eindeutig weniger direkte Begegnungen zu haben? Nicht mehr dauernd den Abstand suchen zu müssen, weil mir alle und alles viel zu nah rückten? Und nun stelle ich fest, dass mein Erschrecken etwas damit zu tun hat, dass gerade die direkte Begegnung beim Unterricht – und überhaupt – dann wieder nicht mehr möglich sein würde.
Wie gut die Onlinearbeit auch funktionierte, was alles auch gelang und welch lebendige Momente sich ergaben, so dass sogar das Gefühl von Gemeinschaft entstand – das unmittelbare Wiedersehen und Begegnen war wunderbar gewesen nach den langen Wochen der Arbeit am und über den Computer. Den anderen unmittelbar zu sehen und zu hören, zwar immer noch mit gebührendem Abstand und mit immer neuer Frischluftzufuhr, sehr wenigen Berührungen, ohne Händeschütteln … alles nur per Wort und Blick und Klang… es war und ist eine Wohltat!
Aber was war denn eigentlich die Wohltat, die sich eindeutig einstellte, trotz so mancher Regeln?
Es hat, so viel ist mir klar geworden, wesentlich etwas mit der gegenseitigen Achtung zu tun, die auf einmal ganz bewußt geübt wird, und dem Respekt, den wir uns gegenseitig gewähren, indem wir Abstand halten – wir lassen uns Raum. Haben genügend eigenen Raum um uns herum und doch einen gemeinsamen, der aus diesem Begegnen entsteht. Der Austausch ist unmittelbar, ohne bedrängend zu werden!
Und noch etwas trägt dazu bei, eine Erfahrung, mit der ich nicht gerechnet habe: als nämlich durch die Universitätsleitung auch noch eigentlich geniale, große Wände mit dünner Plastikfolie aufgestellt werden, die vor den Aerosolen schützen sollen und durch die die Studierenden und ich einander anblicken, spüre ich etwas Eigenartiges: sobald mein Gegenüber hinter diese durchsichtige dünne Folie tritt, ist die Beziehung weg! Wir sind beide noch da und haben doch nichts mehr miteinander zu tun. Das, was in einer direkten Begegnung so selbstverständlich hin und her geht, dass es kaum mehr wahrgenommen wird, ist wie abgeschnitten. Wir sind in einem Raum und doch isoliert. Wie allein gelassen.
Treten wir dann hinter der Folie seitwärts heraus, ist es sofort wieder da: das seltsame Etwas, was unmittelbar im Raum ist und verbindet, wenn jemand zusätzlich herein kommt.
Was ist das genau, was da kommt und verschwindet?
Ausstrahlung? Fluidum? Energie? Aura? Feld? Keine Ahnung!
Ich weiß nur, dass es genau das ist, was mir sehr fehlen wird, sollte ich wieder auf mich allein gestellt sein in meinem Raum, in dem sich von allein nichts verbindet, wenn ein anderer auf dem Bildschirm erscheint.
Meine Beobachtung mit der Folienwand mag trivial klingen, was es mir aber bewußt gemacht hat, ist alles andere als trivial.
Denn so eindeutig habe ich es noch nie empfunden und verstanden: Das schiere, bloße gemeinsame Dasein in einem Raum genügt, um Gemeinschaft herzustellen. Es ist durch keine Leistung besonders hervorgehoben. Der oder die andere ist einfach bloß da. Alles, was sich daraus ergibt, ist schon ein nächster Schritt. Ob da Sympathie ist oder nicht, ob mir der Mensch lästig oder angenehm ist… das ist alles schon über dieses Erste hinaus.
Ich weiß jetzt, was mich an der Bemerkung der Studentin so erschreckt hat: die Vorstellung, in meinem Unterrichten das bloße Dasein des anderen Menschen wieder missen zu müssen. Noch bevor das miteinander Arbeiten überhaupt begonnen hat. Dieses einfache, schlichte, fraglose Dasein vor allem Tun, das bereits etwas Gemeinsames entstehen lässt, bevor ein weiterer Austausch beginnt.
Das kann wahrhaftig mit keiner noch so guten Internetverbindung in dieser sofortigen Wirkung gelingen, auch wenn so manches andere gelingt: Das „rüberbringen“, was ein anderer Mensch vorbehaltlos nur dadurch großzügig verströmt, dass er eintritt, und was sich sofort mit dem verbindet, was auch ich allein dadurch verbreite, dass ich da bin. Wir vergewissern einander wortlos und unmittelbar, dass wir lebendig und nicht allein irgendwo sind. Einfach nur durch‘s gemeinsame Dasein.
Kommen dann noch gegenseitige Aufmerksamkeit, Respekt und Austausch dazu, beginnen die Seele, das Innere, der Geist, sich auszubreiten, und der ganze Mensch wird genährt.
Ich bin dankbar für diese Erkenntnis.
Begegnungen, ob im Unterricht oder auch sonst, sind mir so auf ganz neue Weise wichtig geworden. Ich registriere viel intensiver als früher die Gegenwart eines anderen oder wenn sie fehlt.
Mir kommt ein Lied von Joe Cocker in den Sinn: „You are so beautiful to me“ – „Du bist so schön für mich“ oder etwas allgemeiner: „Es ist so wunderbar, dass du da bist!“
Ja, meine Haut ist dünner geworden. Wie wunderbar zu spüren, dass ein anderer da ist!