Abstand
Abstand halten.
Es gibt viele Arten und Weisen, wie man darauf reagieren und damit umgehen kann. Ich war erst einmal sehr überrascht. Es wirkte auf mich wie ein großes Abenteuer: auf einmal war die Welt still! Ich erlebte einen großen Freiraum, und es war, als begännen meine Zellen, mein ganzer Körper sich von dem Druck zu erholen, der im Alltag bisher eigentlich ganz selbstverständlich war und den ich kaum mehr empfand. Ich habe aufgeatmet vor Erleichterung.
Mir wurde aber ganz schnall klar, dass es noch andere Konsequenzen gab.
Erst mal im privaten Umgang mit den Menschen, die mir begegnen, das ist klar. Aber auch beruflich hieß das: alle Konzerte fallen aus, die bis jetzt geplant waren. Kein Gesangsunterricht kann stattfinden, weder privat noch am Mozarteum in Salzburg. Es bedeutete auch, Abstand zu halten von allem, was mir lieb und wert ist.
Es war ein sehr seltsamer Moment, als mir das wirklich in die Glieder fuhr, wie man so schön sagt. Es war, als verböte man mir zu atmen und zu singen.
Ein paar Tage bin ich wie betäubt durch die Gegend gelaufen, ratlos und verwirrt. Es war wirklich so, als würde mir der Lebensatem abgeschnitten werden mit diesem Abstand halten.
Und dann durchfuhr es mich wie ein Blitz, daswas selbstverständlich ist, war wie neu: es ist ein existentielles Gut ist es zu atmen, tief und fest und lang zu atmen und die Stimme zu erheben, laut zu sein, den Mund aufzumachen, Töne von mir zu geben, zu singen! Dass der Atem der Anfang von allem Leben ist und dass nichts und niemand mir das streitig machen kann, so sehr ich mich auch von Menschen fern halten muss und so beengend und herausfordernd in vieler Hinsicht die Situation auch sein mag.
Und damit hat sich alles gewandelt.
Auf einmal war die Abenteuerlust wieder da und die Freude daran, zu experimentieren: was ist denn jetzt möglich? wie fühlt sich das Atmen in diesen Zeiten des Abstands und der Isolation an? Wozu singe ich, auch wenn es nur in beschränktem Rahmen und wenn, dann vorwiegend online für den Unterricht ist? Was macht das mit mir? Wie kann Nähe, wie kann Beziehung entstehen, obwohl ich Abstand halte?
Und auf einmal tat sich wieder diese digitale Tür des Internets auf als ein überraschendes Tor in eine ganz andere Form von Freiheit. Die Grenzen, die mir auf der einen Seite gesetzt werden, ermöglichten eine Freiheit auf einer ganz anderen Ebene.
Mit meinen Studenten habe ich wunderbare Erfahrungen gemacht. Ich erfuhr auf neue Art und Weise, dass sie mit dem, was ich ihnen zu tun vorschlage, ganz eigenständig umgehen. Dass sie, wie ich ebenfalls auf sich allein gestellt, viel selbständiger und verantwortungsvoller lernen und sich ihre eigene Stimme und Musikstücke erarbeiten, als das vorher der Fall war. Da habe ich immer sehr schnell und oftmals auch zu schnell eingegriffen, wenn ich meinte, ich müsse unbedingt noch eine Hilfestellung geben.
Der Austausch über das neue Medium verlangt unerbittlich, so lange zuzuhören, bis der andere mit seinem Beitrag fertig ist. Andernfalls verstehen wir einander überhaupt nicht! Das mag aus technischer Hinsicht unbefriedigend sein, für den menschlichen Umgang miteinander fordert es erfreulich streng Zurückhaltung und Respekt ein.
Da konnte ich auf einmal entspannen, loslassen. Es war und ist erleichternd, erst einmal abzuwarten. Ich freue mich daran, wie diese jungen Menschen mit den technischen Elementen des Singens, die ich ihnen reiche, auf ihre Weise herausfinden, wie es sich damit atmen und singen läßt und zu erleben, wie die Kraft in der Stimme und im Körper wächst.
Und dann war und bin ich richtig stolz auf sie, wie sie so eigenständig die Verantwortung für ihre Stimme und ihren Atem, für sich selbst übernehmen.
Mit Abstand, so lerne ich, ist es möglich, den anderen zu ermutigen, auf eigenen Füßen zu stehen und zu merken, dass das gelingt. Abstand halten zu müssen, tut oftmals weh, macht traurig und womöglich erst recht krank. Aber Abstand ermöglicht auch Freiraum, Freiraum für mich selbst und Freiraum für den anderen.